Die exotischen Schweizer

August 2, 2012

Von Felix Feigenwinter

Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel stellte einmal fest, die Schweizer sähen sich und ihr Land nicht mit eigenen Augen, sondern mit jenen ausländischer Touristen. Ich versuche, mir darunter etwas vorzustellen. Vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild eines Herrn Schweizer, der hauptberuflich mit der Käsefabrikation beschäftigt ist, nebenberuflich Skiunterricht erteilt oder sich als Bergführer betätigt (oder beides) und in der Freizeit seine Armbrust putzt, das Alphorn bläst oder jodelnd eine Schweizer Fahne durch die Luft schwingt. Bei Regenwetter oder während des Schneesturms findet man ihn in der Wirtschaft, wo er (Rössli-)Stumpen rauchend jasst. Frau Rösli Schweizer dürfte zusammen mit der edelweissgeschmückten Tochter Heidi am häuslichen Herd feine Milchschokolade herstellen (die Milch hatten sie zuvor eigenhändig im Kuhstall gemolken); beide ebenfalls jodelnd. Und während der jüngere Sohn Peter die milchliefernden Geissen und Kühe zur Weide führt, arbeitet der ältere Sohn in der Uhrenfabrik im Tal. Hin und wieder dringt ihm hehres Alphorngebläse vom Berg herunter ans Ohr, dann weiss auch der Toni, dass sein Grossvater, der Almöhi, das Mittagsschläfchen beendet hat.

Da in der Schweiz lebende Ausländer heute keineswegs nur Touristen sind, war es wohl an der Zeit, solche ferienidyllische Identifikationsklischees zu hinterfragen. Einen interessanten Versuch dazu unternahm das Institut für angewandte Linguistik der Universität Bern: Es lud in der Schweiz lebende Ausländer ein, ihre Eindrücke über unser Land und seine Bevölkerung zu Papier zu bringen. Das Ergebnis dieses literarischen Wettbewerbs ist vielfältig und lehrreich: Rund 70 Ausländer haben 160 Texte eingeschickt, und der Blick in diese fremden Spiegel dürfte jedem Eidgenossen und jeder Eidgenossin neue und zum Teil überraschende Erkenntnisse über sich selbst vermitteln.

„Schweizer Soldaten mit narkotisierenden Krankenschwesternstimmen“

Ich möchte hier nur ein Beispiel herauspicken. Die heute in Basel lebende Tschechoslowakin Irina Brezna schildert die Schweizer als „ein fremdes, introvertiertes Bergvolk in Betonbauten“. Die ersten Eidgenossen, die ihr nach ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei an der Grenze bei Buchs begegneten, waren „Schweizer Soldaten mit narkotisierenden Krankenschwesternstimmen“, wie Irina in ihrem faszinierenden Porträt festhält (für den auch literarisch interessanten Text wurde sie von der Berner Jury mit dem ersten Preis ausgezeichnet). Die neue Welt, so schildert die Emigrantin ihre Eindrücke weiter, war für sie „blank und glatt (…) Jedes Gesicht und jedes Wort mahnten mich an die neuen Gesetze (…) Plötzlich war alles anders, die Körperformen der neuen Menschen schmaler und härter, ihre Haltung beherrschter, die Körper wie von einer inneren Achse gehalten, in unsichtbare und undurchdringbare Korsette eingeschlossen.“ Die Seele der Schweizer konnte Irina Brezna, wie sie bekennt, „jahrelang nicht einmal erblicken, so versteckt hauste sie hinter den Fassaden. Wenn ich sie doch manchmal hervorlockte, zitterte sie verschüchtert.“ Und die Worte der Schweizer liessen „nicht mit sich spielen, sie waren arbeitsam und humorlos, auf ihre nackte Existenz reduziert. Sie standen starr, zweckmässig, geistlos und hungrig zur Verfügung.“

Als Neunzehnjährige war Irina frisch an die Basler Universität gekommen. Sie trug nach ihren eigenen Angaben einen schwarzen Minirock und sehnte sich „nach Menschen und Intensität“. Da sie in den Vorlesungssälen tagelang von niemandem angesprochen wurde, setzte sie sich „eine ungezwungene und übermütige Maske auf, ging locker und etwas schlampig auf einige Kommilitonen zu, neigte den Kopf  auf die Seite und lächelte verführerisch“. Doch wie, denken Sie, sind die Basler dem slowakischen Annäherungsversuch begegnet? „Sie zeigten mir ein bitter verzogenes Lächeln“, erinnert sich die Ernüchterte, „traten einen Schritt zurück und antworteten laut und deutlich…“

Vielleicht ergeht es Ihnen ähnlich wie mir: Der Blick in Irinas brillanten (Zerr-?)Spiegel  hat mich ebenso amüsiert wie verwirrt. Noch nie kam mir mein Spiegelbild so penetrant schweizerisch vor, und gleichzeitig so exotisch-skurril…

(Erschienen am 11. Juni 1985 im „Nebelspalter“)

Altmännergespräche

August 2, 2012

Von Felix Feigenwinter

Im Rahmen der Fernsehsendung „Heute abend in…“ diskutierten kürzlich Politiker und Experten über die Probleme rund um die Planung der nächsten schweizerischen Landesausstellung, die voraussichtlich 1991 stattfindet. Unter den sich hartnäckig streitenden Männern – die ebenfalls anwesende Schwyzer Nationalrätin Elisabeth Blunschy kam als einzige Frau ausser Heidi Abel (Moderatorin) nur kurz zu Wort – erkannte man Dr. Markus Kutter aus Basel, den erfolgreichen Werbepionier, Historiker, Schriftsteller und unkonventionellen Ideenlieferanten für verschiedene Angelegenheiten. Wer von Kutter Originelles innerhalb des sich im grossen und ganzen recht urchig abwickelnden Streitgesprächs erwartet hatte, wurde nicht enttäuscht: Der Basler wies darauf hin, dass es anochronistisch und somit wenig sinnvoll sei, die in über zehn Jahren vorgesehene Landesausstellung an ihren Vorgängerinnen von 1939 („Landi“) und 1964 („Expo“) zu messen; Nostalgie sei zur Planung der in ein neues Jahrtausend weisenden Veranstaltung wenig nütze. Kutter charakterisierte diesbezügliche schwärmerische Versuche barsch als „Altmännergespräche“. Bei der nächsten „Landi“ gehe es doch darum, „den Rekruten von 1991“ (so Kutter) zu zeigen, was die Schweiz ist und wohin sie steuere.

Sie haben richtig gelesen, liebe (im Jahr 1979 lebende) Schweizerinnen: Einer der fortschrittlichsten Diskussionsteilnehmer bezeichnete das 1991 anzusprechende repräsentative Zielpublikum als „die Rekruten“, also die heute vor sieben, acht Jahren geborenen jungen Schweizer männlichen Geschlechts. Den weiblichen Bevölkerungsteil, der erst seit dieser Zeitspanne dank Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen politisch gleichwertig ist und gegenwärtig mit einem neuen Ehegesetz auch zivilrechtlich emanzipiert werden soll – diese jungen Schweizerinnen hat Kutter einfach vergessen. Als ob sich seit der Einführung der beiden letzten Landesausstellungen für die weibliche Bevölkerung nichts Entscheidendes geändert hätte und der Begriff „Schweizer Bürger“ (wie anno 1939 und 1964) mit „Schweizer Männern“ (beziehungsweise „Rekruten“) gleichzusetzen wäre. So scheint sich das „Altmännergespräch“ der „Landi 1939“- und „Expo 1964“-Nostalgiker von jenem des damit unzufriedenen Basler Kritikers doch kaum zu unterscheiden. Oder setzt es Kutter als selbstverständlich voraus, dass bis anno 1991 die obligatorische Militärdienstpflicht für Schweizerinnen eingeführt ist? Dann würden unter den Begriff „Rekruten“ tatsächlich Männlein und Weiblein fallen (was nicht unbedingt im Sinne der die Gleichberechtigung, aber nicht Gleichschaltung anstrebenden Frauen wäre).

Sei’s wie’s will. Dass eine „Landi 1991“ in keiner Weise mehr an den Frauen vorbeisehen kann, dürfte mindestens jüngeren Männern – und in erster Linie natürlich den jungen Frauen selbst – schon heute als simple Selbstverständlichkeit erscheinen. Es sei denn, sie messen Ayatollah Khomeinis gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Einflüssen für die Zukunft enorme grenz- und kontinentüberschreitende Wirkung bei…

(Erschienen im Dezember 1979 im Basler „doppelstab“)

Von Felix Feigenwinter

Es gibt eine wissenschaftliche These, wonach die Gattung Mensch nur deshalb durchsetzungsfähig sei, weil sie sich zum Allesfresser entwickelt hat. Während zum Beispiel ein Tier, das sich auf das Fressen von Eukalyptusblättern spezialisiert, in eine Sackgasse gerät, weil es keine Überlebenschancen hat, wenn die Futterpflanze ausstirbt, beginnt der Allesfresser etwas anderes auszuprobieren; indem wir (das heisst unsere legendären Vorfahren) die Härten der Jagd auf uns nahmen, schlugen wir unseren Vettern, den grossen Affen, ein Schnippchen. Die Affen haben nie eine ausgeprägte Fleischfresserphase in ihrer Entwicklung gekannt, und infolgedessen schrumpft ihre Zahl heute von Jahr um Jahr. Unsere Zahl dagegen wächst weltweit auf alarmierende Weise!

Die Überlegenheit des Menschen im Essensspiel ist unübertrefflich. Die Wissenschaft kennt keine andere Art, die so viele Dinge auf so viele verschiedene Arten isst, und es gibt keine organische Substanz, die nicht irgendwann und irgendwo von einem Menschen als Nahrung angesehen worden ist. Dass unser allumfassender Appetit für unsere Entwicklung auch weiterhin entscheidend ist, zeichnet sich ab. Und zwar in zweierlei – merkwürdigerweise sich krass widersprechender – Hinsicht. Weltweit findet eine Bevölkerungsexplosion statt, die katastrophal enden könnte, falls der triebhaften Vermehrung nicht mit vernünftigen Mitteln entgegengesteuert wird. Doch im kleinen – auf einem winzigen Fleck des Erdballs – entwickelt sich auch das Gegenteil:

Das Schweizer Volk wird kleiner und kleiner und droht schliesslich auszusterben!

Zu dieser dramatischen Folgerung kommt die Studie, welche die Kommission für Bevölkerungspolitik der Studiengruppe Demographie der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik und Volkswirtschaft in Bern vorgestellt hat. Verständlich, dass nun herausgefunden werden soll, mit welchen Tricks der global doch so üppig spriessende Vermehrungstrieb mehr nach Mitteleuropa verlagert werden könnte… Dabei geht es ja nicht darum, unsere Parlamente und den Bundesrat zu einer mehr sexualstimulierenden Politik anzutreiben, denn die Lust auf derartige Betätigung scheint auch in der Schweiz noch keineswegs versiegt zu sein. Nein, die Eidgenossin und der Eidgenosse müssten vielmehr dazu motiviert werden, beim sogenannten „Liebe-Machen“ mindestens so intensiv die Bedürfnisse der Nation zu berücksichtigen wie die eigenen beziehungsweise die des Gespielen oder der Gespielin.

Die Empfehlung, Schallplatten mit einer besonders brünstigen Ausgabe der Nationalhymne unters Volk zu streuen, scheint daher gar nicht so abwegig, wenn man bedenkt, welch hervorragende Rolle Musik heute im erotischen Leben gerade der jüngeren Generation zu spielen pflegt. Ob solche Stimulanz zum nationalen Zeugungswillen bei der einheimischen chemischen Industrie auf Begeisterung stossen würde, muss allerdings bezweifelt werden – nicht zufälig spricht man im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang, der in den sechziger Jahren einsetzte, vom „Pillenknick“.

Und da wären wir nun schon wieder bei der Problematik des Allesfressers! Die Neigung – und Fähigkeit beziehungsweise Möglichkeit – , alles zu fressen, hat die Schweizerin und den Schweizer also gewissermassen in die bevölkerungspolitisch so kritische Situation geführt. Im Kanton Basel-Stadt etwa, dem Eldorado der chemischen Industrie, ist der menschliche Bevölkerungsrückgang besonders krass. Demgegenüber fällt hier ein Trend der Bevölkerungsexplosion der Tauben auf. In Verkennung der Tatsache, dass Tauben keine „Allesfresser“ sind, hat man in Basel deshalb begonnen, den gurrenden Tieren Verhütungspillen in Form von Spezial-Maiskörnern unters Futter zu streuen.

Aber siehe da: Anders als ihre auch pillenschluckenden menschlichen Fütterer verschmähten die Vögel die vom Allesfresser hingestreute Familienplanung! Als spezialisierte Fresser vermehrten sie sich weiterhin sehr üppig und zwangen damit den Allesfresser Mensch, sich in den anachronistischen Zustand des Jagens zurückzuversetzen: Durch einen Beamten des baselstädtischen Amtes für Jagd- und Tierwesen lässt das für Ruhe und Ordnung (und damit gegen eine sich emsig vermehrende, Häuser, Strassen und Plätze verunreinigende Vogelschar) zuständige Polizeidepartement einzelne Exemplare der gefiederten Freunde von Zeit zu Zeit unauffällig und gezielt abschiessen – offenbar die einzige (wenngleich überwunden geglaubte und bei sensiblen Allesfressern nicht gerade beliebte) Methode, der Vermehrungswut des spezialisierten Körnerfressers Taube einigermassen Herr zu werden.

(Erschienen im Nebelspalter Nr. 18/1985)

Von Felix Feigenwinter

Darf man von einem Batteriehuhn Lebenstüchtigkeit erwarten? Eine Verbesserung der Lage, indem man die Batterie mit der Bodenhaltung oder, noch besser, mit der Auslaufhaltung vertauscht, würde diesen gefiederten Freunden zweifellos nur zum Nutzen und zur Freude gereichen. Würde ein Batteriehuhn jedoch zum Wildhuhn befördert und es würde unvorbereitet und schutzlos in die freie Natur ausgesetzt, geriete es vermutlich in arge Existenznöte. Da in seinem bisherigen Gefängnisleben die entsprechenden Instinkte und Fertigkeiten verkümmerten, dürfte es Schwierigkeiten bekunden, sein Futter selbst zu finden und sich der Verfolgung durch diverse Raubtiere geschickt zu entziehen.

Wie zur Bestätigung des so vielfach beschworenen „Mut zum Aufbruch“ ist es trotzdem eine Tatsache, dass immer mehr „Batteriehühner“, will sagen Angestellte, dem Ruf zur Überwindung des Besitzstandsdenkens folgen und den abenteuerlichen Weg in die Selbständigkeit beschreiten. Noch nie wurden in der Schweiz so viele Unternehmen gegründet wie in der letzten Zeit. Nicht wenige der (zum Teil auch schon ergrauten) Jungunternehmer sind freilich ehemalige Arbeitslose oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte, die gewissermaßen die „Flucht nach vorn“ antraten.

Natürlich wäre es naiv, zu meinen,  ein Leben als selbständigerwerbender Unternehmer garantiere mit Sicherheit ein zufriedeneres und einfacheres Leben. Der Schritt vom Batteriehuhn zum Freiwild sollte sorgfältig vorbereitet werden. Dazu dienen diverse Beratungsstellen und Schulungsmöglichkeiten. Näheres darüber, nützliche Informationen zur Gründung einer eigenen Firma, sind zum Beispiel dem „Beobachter“-Ratgeber „Ich mache mich selbständig“ zu entnehmen, der seit  kurzem im Buchhandel erhältlich ist.

Die Beantwortung der folgenden – eher psychologischen – Frage  habe ich darin allerdings nicht gefunden: Wie beschwichtigt ein langjähriger Angestellter, der unerwartet den Sprung in die Selbständigkeit wagt, seine in der Batteriehuhnhaltung verbleibenden Mitarbeiter? Mein Rat: Geben Sie Ihren untröstlichen Kolleginnen und Kollegen doch einfach zu verstehen, sie fühlten sich in der Batteriehuhnhaltung nicht mehr wohl, da Sie im Begriff seien, sich vom Batteriehuhn zum sagen wir Habicht zu mausern. Der Erfolg wird nicht ausbleiben: Keine und keiner wird mehr versuchen wollen, Sie auf dem Stängelchen beziehungsweise im Käfig zu halten. Denn welches Huhn hält sich schon gern in der Nähe eines werdenden Habichts auf?

(Erschienen 1996 im „Baslerstab“)

Von Felix Feigenwinter

Ein beliebtes Argument für eine Politik gegen einströmende Ausländer war jahrelang der Einwand, die Schweiz werde oder sei bereits übervölkert. Stadtbewohner, die sich täglich durch verstopfte Strassen, Einkaufsläden und Trams zwängen, mögen diese Befürchtungen teilen. Indessen zeichnen sich längst entgegengesetzte Perspektiven ab. Experten haben ausgerechnet, in den neunziger Jahren  und später würde das Schweizervolk „überaltern“. Dazu gesamthaft abnehmen, ja langfristig gesehen sogar aussterben. Und zwar wegen des berühmten Pillenknicks, der in den siebziger Jahren den Geburtensegen einzudämmen begann. Die AHV drohe ihrem Ruin entgegenzusteuern, und Militärsachverständige rechnen mit einem massiven Schwund des Armeebestandes. So verscheucht die  Schreckensvision einer entvölkerten  Schweiz das jahrelang gefütterte Gespenst der übervölkerten  Schweiz. Brave Eidgenossen befällt Schwindel ob solcher Umkehr vertraut gewordener Missstände.

Was tun?

Das Rezept scheint einfach: Endlich kann die Völkerwanderung aus südlichen und fernöstlichen Entwicklungsländern ins wohlstandsgesegnete Herz Mitteleuropas einen nützlichen Zweck erfüllen! Die Einbürgerung geburtenfreudiger Einwanderer würde nämlich die Herabsetzung der Rentenalter bei weiterhin finanzkräftiger AHV ermöglichen, und die Schweiz könnte auch im nächsten Jahrtausend bestehen…

Wie bitte? Wohin es führe, wenn Söhne und Töchter asiatischer, südamerikanischer und afrikanischer Einwanderer die Schweiz von morgen regierten? Ein schlitzäugiger, gelbhäutiger Nationalbankpräsident, ein Generalstabsoffizier mit indianischen Gesichtszügen oder eine schwarzhäutige kraushaarige Landesmutter würden schlecht zum vaterländischen Denkmal passen, mit dem uns Nationalrat Markus Ruf den Bundesplatz verschönern will? Ich meine, derartige Bedenken erübrigen sich. Denn spätestens im Jahr 2020 dürfte das Schweizervolk rassisch und kulturell noch weitaus pluralistischer schillern als schon gegenwärtig. So wäre rassistische Intoleranz, die heute manchmal noch durchschimmert, dannzumal wohl endgültig überwunden. Die auf dem Bundesplatz geplanten (bleichgesichtigen) Denkmalfiguren eines Wilhelm Tell oder eines Schweizer Wehrmanns aus dem 20. Jahrhundert dürften die kunterbunt durchmischten Schweizer im nächsten Jahrtausend kaum mehr verunsichern. Selbst wenn eine dieser von einem NA-Künstler entworfenen Figuren Markus Rufs Gesichtszüge tragen sollte..

(Erschienen 1986 im „Nebelspalter“)

 

Die folgende Interview-Satire schrieb Felix Feigenwinter 1993 aus aktuellem Anlass in Anspielung auf die Schmutzkampagne gegen eine Schweizer Bundesratskandidatin (die dann tatsächlich nicht gewählt wurde) mit Angriffen auf deren Privatsphäre. Um die Unfairness der Vorwürfe zu verdeutlichen und die Attacken auf die Politikerin persiflierend ab absurdum zu führen, erfand er für sein imaginäres Gespräch ein männliches Interviewopfer.

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Herr Bundesrat, es wurde uns vertraulich ein Foto zugespielt, das Sie beziehungsweise Ihr Privatleben in ein zweifelhaftes Licht rückt.

Bundesrat Schweizer (absolut gelassen): Ich nehme an, es handelt sich um eine anonyme Zuschrift.

Da müssen wir Sie enttäuschen. Der Überbringer des Fotos hat Name und Adresse hinterlassen. Er steht zu seinem Vorwurf.

Bundesrat Schweizer (sichtlich verärgert): Ach so. Ein politischer Gegner! Aus der linken oder rechten Ecke?

Der Überbringer des Fotos erklärte, keiner politischen Partei oder Bewegung anzugehören. Es gehe ihm einzig und allein um die Ehre der Eidgenossenschaft.

Bundesrat Schweizer (verächtlich):  Ein Nationalist!

Heisst das, dass Sie selber nicht an der Ehre der Nation Schweiz interessiert sind?

Bundesrat Schweizer: Wie kommen Sie zu dieser abwegigen Annahme!? Seit der Ablehung des EWR bleibt uns ja gar nichts anderes übrig, unser Nationalbewusstsein zu stärken, um international nicht unterzugehen!

Eben. Kommen wir also auf das erwähnte Foto zurück. Es zeigt Sie, Herr Bundesrat, unbekleidet!

Bundesrat Schweizer (entsetzt): Ein Nacktfoto!?

Leider, ja.

Bundesrat Schweizer (murmelnd): Das kann ich mir nicht gut vorstellen.

Wollen Sie damit erklären, Herr Bundesrat, dass Sie sich nie nackt zu betrachten pflegen?

Bundesrat Schweizer: Richtig! Das kann ich auch jederzeit beweisen! In unserem Haus gibt es nur kleine Spiegel, die auf Gesichtshöhe angebracht sind. Sie können meine Frau fragen…sie wird es Ihnen bestätigen! Sie können auch jederzeit eine Hausvisitation vornehmen, wenn Sie es wünschen. Nach vorheriger Absprache mit meiner Frau selbstverständlich.

Aber darum geht es doch gar nicht, Herr Bundesrat. Das fragliche Foto wurde nicht in Ihrem trauten Heim aufgenommen.

Bundesrat Schweizer (nachdenklich): Ach so. Aber ich besuche keine Sauna. Dazu habe ich gar keine Zeit…

Die Aufnahme stammt nicht aus einer Sauna.

Bundesrat Schweizer: Dann bin ich wirklich ratlos. Wo soll ich denn nackt aufgetreten sein? Als Bundesrat habe ich doch gar keine Gelegenheit dazu!

Es handelt sich um eine Ferienaufnahme.

Bundesrat Schweizer: Das ist völlig ausgeschlossen! Meine Ferien verbringe ich mit meiner Frau. Wir unternehmen stets Kulturreisen. In europäische Städte, seit der Beseitigung des Eisernen Vorhangs auch in osteuropäische. Vor drei Jahren reisten wir in den Fernen Osten. Wir spazierten durch Museen, bewunderten Baudenkmäler, besuchten alte Tempel und Kirchen. Da sind Nacktfotos doch nicht möglich!

Das Foto zeigt Sie an einem Strand.

Bundesrat Schweizer: Auch das ist ausgeschlossen! Die einzigen Ferien an den Gestaden eines Sees verbrachte ich in meinem Präsidialjahr. Sie wissen ja, der schweizerische Bundespräsident soll das Land nicht verlassen. Da wanderte ich mit meiner Frau rund um den Aegerisee. Immer wieder, drei Wochen lang. Aber doch nicht nackt! Dazu war es übrigens auch viel zu regnerisch und kühl.

Das fragliche Foto zeigt Sie offensichtlich an einem südlichen Strand. Jedenfalls sind Palmen zu sehen.

Bundesrat Schweizer (leicht errötend): Was Sie nicht sagen! Aber seit ich Bundesrat bin, habe ich, wie gesagt, nie mehr an einem Strand gebadet. Weder im In- noch im Ausland.

Es geht um die Erhellung Ihres vorbundesrätlichen Lebens!

Bundesrat Schweizer: Das ist ja der Hammer! Was hat das mit meiner jetzigen Existenz als Bundesrat zu tun? Man schnüffelt in meinem Vorleben herum, um mich zur Demission zu zwingen? Warum hat sich dieser Moralhüter nicht vor meiner übrigens völlig unbestrittenen Wahl in den Bundesrat gemeldet? Jetzt im nachhinein will er mich überführen? Lächerlich, kann ich nur sagen!

Sie geben es also zu?

Bundesrat Schweizer: Was denn, um Himmels Willen?

Eben, nackt an einem südlichen Strand gestanden zu haben.

Bundesrat Schweizer: Sie wollen mich als Exhibitionisten überführen?

Es geht um Fakten.

Bundesrat Schweizer: Als Nationalrat und auch früher habe ich einige Male an einem südlichen Strand gebadet. Das schon. Ich war in der Karibik in den Ferien. Aber splitternackt? Nein, sicher nicht!

Das Foto zeigt anderes.

Bundesrat Schweizer (unsicher): Was zeigt es denn? Mich nackt? Ohne Badehose? Von hinten oder von vorne?

Von hinten.

Bundesrat Schweizer: Na also. Dann kann es ja nicht so schlimm sein!

Leider doch.

Bundesrat Schweizer (ärgerlich): Man will mir homophile Neigungen unterstellen?!

Keineswegs.

Bundesrat Schweizer: Wie will man überhaupt beweisen, dass ich es bin?

Sie schauen zur Seite. Ihr Gesicht sieht man im Profil. Der Fotograf kennt Sie seit langem. Er hat Ferien in der Karibik verbracht und hat Sie sofort erkannt. Er war ein ehemaliger Wähler von Ihnen. Seit er Sie nackt gesehen hat, ist er’s nicht mehr.

Bundesrat Schweizer: Ein mieser Erpresser. Genug der Geheimnistuerei. Zeigen Sie mir das Bild endlich!

Der Mann hat uns das Foto zur Veröffentlichung angeboten. Sie sind übrigens nicht allein darauf zu sehen.

Bundesrat Schweizer (hold errötend): So, so. Ja, darf man denn nicht mehr zu zweit in die Ferien?

Eine dunkle Schönheit steht neben Ihnen und lacht Sie an. Es ist offensichtlich nicht Ihre Frau.

Bundesrat Schweizer: Ach was. An einem öffentlichen Ferienstrand hat es viele Menschen. Es wird eine Einheimische sein, eine Inselbewohnerin. Ist sie auch nackt?

Nein, sie trägt einen Bikini.

Bundesrat Schweizer: Nun, zeigen Sie mal her!

(Der Interviewer überreicht dem Interviewten das Bild.)

Bundesrat Schweizer: Hm. Hmhm. Und das soll ich sein?

Ja, damals.

Bundesrat Schweizer: Nun ja, da war ich noch jünger. Aber was soll das Ganze?  Ich bin nackt, weil ich die nasse Badehose ausgezogen habe, um meine Shorts anzuziehen. Irgendwo muss man sich umziehen. Es hat nicht überall Umkleidekabinen. Gehen Sie denn nie baden? Ziehen Sie sich nie aus und um?

Oh doch. Aber unsereiner ist nicht Bundesrat. Da liegt der feine Unterschied.

(Diese Satire ist am 1. März 1993 im „Nebelspalter“ erschienen)

Vo nüt chunnt nüt

Juli 29, 2012

Von Felix Feigenwinter

Ich kenne keinen würdigeren Vertreter schweizerischer Arbeitsmoral als meinen ehemaligen Lehrer Valentin Stämpfli. Zielbewusst erzog er uns zum spartanischen Verzicht auf alles, was er für „unnützen Zeitvertreib“ hielt. „Unnützer Zeitvertreib“ war jede Tätigkeit,  – und selbstverständlich erst recht jedes Nichtstun – , die keinen AHV-pflichtigen Lohn erzielte. Einziger Zweck unseres Daseins war in Stämpflis Vorstellung die materielle Absicherung des späteren Rentnerlebens. So verstand er die Schule als eine Ausbildungsstätte für Generationen pflichtbewusster AHV-Beitragszahler. Nichts unterließ er, um uns Arbeitsdisziplin und Ehrfrucht vor dem Drei-Säulen-Konzept der Altersvorsorge einzutrichtern. Unter dem Motto „Vo nüt chunnt nüt!“ führte er seine gefürchteten Noten-Schriftlichen durch und überhäufte uns mit Hausaufgaben, die unsere Freizeit in anstrengende Leistungssitzungen verwandelten. „Vo nüt chunnt nüt!“ hieß für Herrn Stämpfli: unentwegtes Chrampfen bis zur Erreichung des AHV-Alters.

Aber nicht, dass Sie jetzt denken, Herr Stämpfli sei ein schmarotzerischer Heuchler gewesen, der andere zu verbissener Arbeit angehalten hätte, um sich selbst ein um so genüsslicheres Leben zu verschaffen! Nichts von alledem. Jahrzehntelang büffelte er in seiner Freizeit an einem Lebenswerk, das er unter dem Titel „Ohne Fleiß kein Preis“ als Buch herauszugeben beabsichtigte. Da kein Verleger Interesse bekundete, gründete Stämpfli schließlich einen Selbstverlag.

Wenige Tage nach der Auslieferung seiner Bücher besuchte ich den kurz vor seiner Pensionierung stehenden Lehrer in seiner Wohnung. Er saß an seinem Schreibpult zwischen den Büchertürmen und wirkte irgendwie verklärt. „Die dritte Säule meiner Altersversorgung“, erklärte er mir, indem er auf die hoch aufgeschichteten Folianten zeigte. In seinem sonst so zerquälten Antlitz bemerkte ich zum erstenmal den Anflug eines stolzen Lächelns. Die Aussicht, das Lebensziel bald erreicht zu haben, schien ihn zu entspannen. Ihn, der sich sogar in seinen langen Schulferien jegliches Ausspannen versagt hatte! Noch mussten für die Bücher allerdings Leser gefunden werden – und Buchhändler, die gewillt waren, das Werk unter die Leute zu bringen…

Eine Woche nach meinem Besuch in Stämpflis bücherverstelltem Heim kippte einer der Türme. Nicht dass die Bücher Herrn Stämpfli erschlagen hätten, aber der Schreck über den Einsturz der dritten Säule brachte sein angegriffenes Herz offenbar zum Stillstand. So fand er doch noch seine Ruhe, wenngleich anders als lebenslang geplant.

An Stämpflis Beerdigung begegnete ich mehreren früheren Schulkameraden. Mit pflicht- und fleißzerfurchten Gesichtern stämpflischer Prägung umstanden sie das Grab des verehrten Lehrers. Die einzig lockere Gestalt an dieser Beerdigung war Fridolin;  er hatte sich kaum verändert. Als wir uns einst in Stämpflis Klassenzimmer über unsere Grammatikschriftlichen beugten, lehnte sich Fridolin lässig zurück und zeichnete Vögel: Tauben, Schwäne und Störche. Das war seine Spezialität – und das einzige, was er in der Schule wirklich konnte: Vögel zeichnen. Fridolin hat nie eine Abschlussprüfung bestanden, beendete somit auch nie eine Berufslehre, und aus der Rekrutenschule kehrte er – wen wundert’s! – bereits nach drei Wochen zurück. Er wurde „miltitärdienstuntauglich“ erklärt. Auch die Arbeitsstellen, die er von Zeit zu Zeit antrat, verließ er bald unverrichteter Dinge.

Später traf ich ihn einmal sonntags im Zoologischen Garten, wohin ich mit meiner Frau und  den Kindern spaziert war. Fridolin saß auf einer Bank und zeichnete Störche. Nach einigem Zögern kaufte ich ihm ein Bild ab. Er gestand mir, dass er davon leben müsse. Ein anderes Einkommen habe er nicht.

Einige Jahre danach berichtete mir meine Frau, als ich abends vom Büro nach Hause kam, sie habe Fridolin in der Stadt getroffen. Es gehe ihm jetzt gut, er beziehe eine Invalidenrente, und im Rahmen der Ergänzungsleistungen seien ihm für mehrere tausend Franken die Zähne saniert worden. Auch kleide er sich jetzt gepflegter als früher, und er mache sich bei Frauen beliebt. Jedenfalls werde er von Damen zum Essen eingeladen, wie er ihr anvertraute. Anders als die Männer, die während neun Stunden täglich im Büro sitzen, habe er nun eben viel Zeit, in Cafés zu flirten. Er wisse stets drollige Geschichten zu erzählen. Dem Bericht meiner Frau musste ich entnehmen, dass sich Fridolin vom Clochard zum Gigolo entwickelt hatte.

Gestern nun, als ich auf meinem Velo zur Arbeit fuhr, habe ich ihn selber gesehen. Vor dem Rotlicht, wo ich mein Zweirad abstoppte, hielt neben mir ein schnittiger Sportwagen. Der Mann, der die Autoscheibe herunterkurbelte, um mich grinsend zu grüßen, war Fridolin. Neben ihm saß eine junge Dame am Steuer, die ich als „sehr gut aussehend“ bezeichnen möchte. Sie schien auch sonst  nett zu sein; jedenfalls lächelte sie mir freundlich zu. „Brigitte, meine Braut“, stellte sie mir Fridolin vor, der übrigens tatsächlich in eleganten Kleidern steckte. „Übermorgen fliegen wir in die  Flitterwochen!“ Sie werden verstehen, dass ich einigermaßen verdattert war! „Wie verdient man solches Glück?“ konnte ich nur noch stammeln. Fridolin lehnte sich zurück, bleckte vergnügt sein makelloses Gebiss: „Vo nüt chunnt nüt!“ Dann  wechselte das Ampellicht auf Grün, und das glückliche Paar brauste fröhlich winkend davon.

(Diese Geschichte ist am 19. November 1985 im „Nebelspalter“ und unter dem Titel „Das Gebiss“ am 4. Februar 1986 in der „Ciba-Geigy-Zeitung“ erschienen.)