Die exotischen Schweizer

August 2, 2012

Von Felix Feigenwinter

Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel stellte einmal fest, die Schweizer sähen sich und ihr Land nicht mit eigenen Augen, sondern mit jenen ausländischer Touristen. Ich versuche, mir darunter etwas vorzustellen. Vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild eines Herrn Schweizer, der hauptberuflich mit der Käsefabrikation beschäftigt ist, nebenberuflich Skiunterricht erteilt oder sich als Bergführer betätigt (oder beides) und in der Freizeit seine Armbrust putzt, das Alphorn bläst oder jodelnd eine Schweizer Fahne durch die Luft schwingt. Bei Regenwetter oder während des Schneesturms findet man ihn in der Wirtschaft, wo er (Rössli-)Stumpen rauchend jasst. Frau Rösli Schweizer dürfte zusammen mit der edelweissgeschmückten Tochter Heidi am häuslichen Herd feine Milchschokolade herstellen (die Milch hatten sie zuvor eigenhändig im Kuhstall gemolken); beide ebenfalls jodelnd. Und während der jüngere Sohn Peter die milchliefernden Geissen und Kühe zur Weide führt, arbeitet der ältere Sohn in der Uhrenfabrik im Tal. Hin und wieder dringt ihm hehres Alphorngebläse vom Berg herunter ans Ohr, dann weiss auch der Toni, dass sein Grossvater, der Almöhi, das Mittagsschläfchen beendet hat.

Da in der Schweiz lebende Ausländer heute keineswegs nur Touristen sind, war es wohl an der Zeit, solche ferienidyllische Identifikationsklischees zu hinterfragen. Einen interessanten Versuch dazu unternahm das Institut für angewandte Linguistik der Universität Bern: Es lud in der Schweiz lebende Ausländer ein, ihre Eindrücke über unser Land und seine Bevölkerung zu Papier zu bringen. Das Ergebnis dieses literarischen Wettbewerbs ist vielfältig und lehrreich: Rund 70 Ausländer haben 160 Texte eingeschickt, und der Blick in diese fremden Spiegel dürfte jedem Eidgenossen und jeder Eidgenossin neue und zum Teil überraschende Erkenntnisse über sich selbst vermitteln.

„Schweizer Soldaten mit narkotisierenden Krankenschwesternstimmen“

Ich möchte hier nur ein Beispiel herauspicken. Die heute in Basel lebende Tschechoslowakin Irina Brezna schildert die Schweizer als „ein fremdes, introvertiertes Bergvolk in Betonbauten“. Die ersten Eidgenossen, die ihr nach ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei an der Grenze bei Buchs begegneten, waren „Schweizer Soldaten mit narkotisierenden Krankenschwesternstimmen“, wie Irina in ihrem faszinierenden Porträt festhält (für den auch literarisch interessanten Text wurde sie von der Berner Jury mit dem ersten Preis ausgezeichnet). Die neue Welt, so schildert die Emigrantin ihre Eindrücke weiter, war für sie „blank und glatt (…) Jedes Gesicht und jedes Wort mahnten mich an die neuen Gesetze (…) Plötzlich war alles anders, die Körperformen der neuen Menschen schmaler und härter, ihre Haltung beherrschter, die Körper wie von einer inneren Achse gehalten, in unsichtbare und undurchdringbare Korsette eingeschlossen.“ Die Seele der Schweizer konnte Irina Brezna, wie sie bekennt, „jahrelang nicht einmal erblicken, so versteckt hauste sie hinter den Fassaden. Wenn ich sie doch manchmal hervorlockte, zitterte sie verschüchtert.“ Und die Worte der Schweizer liessen „nicht mit sich spielen, sie waren arbeitsam und humorlos, auf ihre nackte Existenz reduziert. Sie standen starr, zweckmässig, geistlos und hungrig zur Verfügung.“

Als Neunzehnjährige war Irina frisch an die Basler Universität gekommen. Sie trug nach ihren eigenen Angaben einen schwarzen Minirock und sehnte sich „nach Menschen und Intensität“. Da sie in den Vorlesungssälen tagelang von niemandem angesprochen wurde, setzte sie sich „eine ungezwungene und übermütige Maske auf, ging locker und etwas schlampig auf einige Kommilitonen zu, neigte den Kopf  auf die Seite und lächelte verführerisch“. Doch wie, denken Sie, sind die Basler dem slowakischen Annäherungsversuch begegnet? „Sie zeigten mir ein bitter verzogenes Lächeln“, erinnert sich die Ernüchterte, „traten einen Schritt zurück und antworteten laut und deutlich…“

Vielleicht ergeht es Ihnen ähnlich wie mir: Der Blick in Irinas brillanten (Zerr-?)Spiegel  hat mich ebenso amüsiert wie verwirrt. Noch nie kam mir mein Spiegelbild so penetrant schweizerisch vor, und gleichzeitig so exotisch-skurril…

(Erschienen am 11. Juni 1985 im „Nebelspalter“)

Hinterlasse einen Kommentar